2007 - Sommernachtsphantasien
30. Juni – 13. Oktober 2007
Eröffnungsrede von Dr. Christine Jung
Sommernachtsphantasien, ist der vielversprechende Titel der neuen Ausstellung von Red Corridor: Eine Ausstellung voller künstlerischer Phantasien rund um eine oder mehrere Sommernächte, die vieles versprechen und andeuten, aber auch vieles darstellen und offen lassen.
Was aber verbirgt sich hinter diesem verheißungsvollen Titel? Welche Empfindungen, welche Bilder kommen hier zum Vorschein? Was verbinden wir oder Sie mit Sommernachtsphantasien?
Ist es etwas Poetisches oder Provokantes, etwas Heißes oder Kühles, was Dunkles und Verborgenes oder Sternenklares?
Ist es vielleicht die Lust am Leben, die Freude und Heiterkeit, die Leichtigkeit des Seins, der Zauber des Augenblicks oder das Traum- und Märchenhafte?
Oder sind es vielmehr konkrete Visionen von Natur und Idylle pur, von Sternenhimmel, Lagerfeuer und Gitarrenspiel, von Düften und Wohlgerüchen, von Wärme und Wohlgefühl?
Dies jedenfalls sind nur einige von vielen Vorstellungen, die auf die Frage nach Sommernachtsphantasien immer wieder genannt werden. Natürlich sind die Assoziationen jedes Mal sehr individuell und subjektiv, oftmals eindeutig auf die Natur und ihre sinnliche Wahrnehmung bezogen. Zumeist kreisen sie letztendlich aber doch – mal mehr oder weniger zweideutig – um einen zentralen Kern: Und zwar um das Sinnliche und um die Liebe, nicht nur die körperliche, sondern auch die geistig-seelische, das heißt: um das Erotische in vielen Erscheinungsformen als sinnliches Begehren, als das Verlangen nach etwas Anderem oder nach dem Anderen, ganz gleich ob in verhüllter oder enthüllter, ob in körper- oder naturhafter Form.
Auch die Künstler der Gruppe Red Corridor haben sich in dieser Ausstellung mit Sommernachtsphantasien im Allgemeinen und mit dem Erotischen im Besonderen auseinandergesetzt. Von verschiedenen Seiten nähern sie sich in ihren Werken diesem vielschichtigen Thema, das schon immer - zu allen Zeiten, in allen Ländern und Kulturen - die Künstler beschäftigt hat. Damit folgen sie einer Jahrtausende alten Tradition, die im Laufe der Zeiten eine Vielfalt von künstlerischen Darstellungen hervorgebracht hat: Angefangen von der erotischen Anspielung oder Verschleierung und Verschlüsselung reicht das breite Spektrum erotischer Kunst über verschiedene Stufen der Liebesannäherung, der spielerischen Verführung bis hin zur Aktdarstellung, zu pikanten Szenen oder drastischer Sinnlichkeit. Je nach historischem Zusammenhang, je nach religiösen oder gesellschaftlichen Vorstellungen veränderte sich das erotische Bild in kultisch und mythisch geprägten Zeiten, in streng moralisierenden Epochen oder im Zuge der fortschreitenden Liberalisierung, der sexuellen Revolutionen. So wie sich die Einstellung zur Erotik im Laufe der Jahrhunderte wandelte, so wandelte sich auch ihre Darstellung in der bildenden Kunst: mal eindeutig und freizügig, mal doppeldeutig und zwiespältig, manchmal witzig oder humorvoll, aber auch melancholisch und ernst.
Wenn die Künstler der Gruppe Red Corridor nächtliche Phantasien in den Mittelpunkt ihrer Sommerausstellung stellen, dann zeigen auch sie das Erotische in seinen vielen Erscheinungsformen. In ihren Werken – den Bildern, Fahnen, Objekten und Skulpturen – kommen immer wieder verschiedene Aspekte zum Vorschein: sowohl in poetisch-lyrischer, in symbolisch-verschlüsselter oder in direkt-konkreter Weise.
Nach den letzten, vielmehr ernsten und kritischen Ausstellungen der Galerie Red Corridor, (wie der stattmesse oder dem Kleintierzuchtverein), präsentiert die Künstlergruppe heute eine auf den ersten Blick sommerliche, luftige heitere und lebenslustige Sonderschau. Aber auch hier gibt es immer wieder zwei oder mehrere Seiten, es gibt ein- oder mehrdeutige Darstellungen, die den Betrachter auf mehreren Ebenen zur individuellen sinnlichen Wahrnehmung einladen.
Die aus Polen stammende Künstlerin Joanna Skurska entwirft und webt aus farbigen Drähten vielschichtige textile Objekte, die hier in der Luft schweben, an den Wänden hängen oder auf Podesten liegen: Es sind poetisch anmutende Kleidungsstücke oder vielmehr Dessous, sehr
feminin und figurbetont, sehr filigran und transparent, die auf verschiedene Inhalte verweisen, die verschiedene Phantasien wecken können. Auf der einen Seite präsentieren sie sich körperlos, als leere Hüllen, die den Blick freigeben auf ein imaginäres Inneres. Auf der anderen Seite nehmen sie selbst eine nahezu körperhafte Gestalt an, werden gleichsam zu einem selbstständigen Wesen, mit einem eigenen Namen, einer individuellen Persönlichkeit. Ob in kunstvoller Drapierung
oder mit betonten Konturen, ob in dichten Schichten oder in offenen Formen, ob festliche Robe oder eng geschnürte Korsage – die phantasievollen Kreationen in zumeist leuchtendem Kupferrot inszenieren das Weibliche und zeugen dabei von verschiedenen Zusammenhängen. Sie sind Mittler oder Medium von variierenden Empfindungen oder Vorstellungen: von Schmuck und Schutz, aber auch Panzer und Käfig, von Einengung, Maskierung und Offenlegung, von dem Inneren im Äußeren und umgekehrt. In diesem Sinne zeigt die Künstlerin in ihren Textilobjekten etwas, was dort war, ist oder sein könnte.
Sie zeigt in dem „Gewand“ des Sichtbaren etwas Unsichtbares, sie deutet mit der Form einen Inhalt an und lässt ihn zugleich offen, so dass auch das Nichtvorhandene seinen großen Reiz, eine immense Anziehungskraft ausüben kann.
Im Werk von Rudi Neuland stehen der Mensch und sein Körper im Zentrum der figürlich-abstrakten Darstellung. Der Künstler hat für diese Ausstellung eine Serie von Fahnen geschaffen, die den isolierten Kopf in kontrastreicher Farb- und Formgebung von den malerischen Hintergründen abheben. Mit ihren zumeist nur angedeuteten, auf das Wesentliche reduzierten Physiognomien wirken sie oftmals nach innen gerichtet, konzentriert auf das innere Geschehen, auf verschiedene Stimmungen oder Emotionen. Begleitet werden die Gesichter von den Worten des Pablo Neruda, von Zitaten aus seinem lyrischen Werk, aus den Liebesgedichten, die in diesem Zusammenhang etwas glühend Romantisches und sehr Leidenschaftliches, aber auch Melancholisches und Bewegendes verkörpern.
Und auch im skulpturalen Werk von Rudi Neuland sind hinter dem Äußeren unterschiedlich bewegte Emotionen zu spüren. Neben einer weiblichen Statue, deren fragmentarische Formen das Weiche, Geschwungene und Weibliche betonen, erhebt sich die hermenartige Gestalt eines Mannes mit weit nach oben gerichteten, nach hinten gebeugtem Haupt, mit weit geöffnetem torsoartigen Oberkörper, mit betont angespannter Bauchpartie und dem Zeichen seiner Männlichkeit. In dieser offenen Körperhaltung und dem zugleich verschlossenen, nach innen gerichteten Gesichtsausdruck drücken sich sehr intime, wechselvolle Stimmungen aus: Spannungsvolle Zustände zwischen Innen und Außen, vielleicht ein sehr sinnliches Erleben zwischen An- und Entspannung, das in dieser fragmentarischen Darstellung vieles andeutet und zugleich offen lässt.
Der dritte Künstler der Gruppe Red Corridor, Leszek Skurski, widmet sich in seiner Bilderserie der erotischen Pose im Wandel der Zeiten. Er gibt den Blick auf die Frau in hellen pastellartigen Farben wieder, so wie er in Kriegs- oder Nachkriegszeiten in den so genannten Pin-ups festgehalten und an die Wände geheftet wurde. Zu sehen sind hier sentimentale, romantisierende oder patriotische Inszenierungen, eingebunden in einen erzählerischen Moment, die das Erotische mit vielen, nicht nur körperlichen Objekten der Begierde darstellen: Sie zeigen die mehr oder weniger bekleidete Frau im Minirock mit Gewehr vor einer Kaserne, im tief dekolletierten wehenden Kleid auf einem Fahrrad oder im Bikini vor einem sonnigen blauen Himmel. Es sind vielmehr andeutende als enthüllende Bilder, die in den Zeiten der strengen Zensurregelungen als erotisch galten und die heute aus einem ganz anderen Blickwinkel, mit ganz anderen Sichtweisen betrachtet werden. Viel hat sich im Laufe der Zeiten und im Zuge der Bilderfluten verändert - vor allem auch der erotische Blick. Viel mehr
Enthülltes ist heute zu sehen, überall und allgegenwärtig, viel mehr deutliche oder eindeutige Posen, die viel Intimes verkörpern, aber auch - je nach Perspektive - vieles für die Phantasie offen lassen können: So wird hier in der zweiten Bilderfolge von Leszek Skurski eine deutliche Spannung aufgebaut, nicht nur in der Körperhaltung oder Gestik, sondern vor allem auch in dem Blick, der selbstsicher und herausfordernd, scheinbar ohne Distanz, aber mit deutlichem Abstand, aus dem Bild heraus auf das Gegenüber gerichtet ist.
Mit anderen oder vielmehr weitergehenden Phantasien, mit einer anderen erotischen Darstellung beschäftigt sich die in Polen lebende Künstlerin
Gosia Krakowiak, die von der Galerie Red Corridor zu dieser Ausstellung eingeladen wurde. Auf ihren leuchtend farbigen Gemälden scheint das Figürliche zu verschwimmen, zu verschmelzen: im Dunkel der Nacht, im leeren azurblauen Raum, unter einem Sonnenschirm oder vor einem gitterartigen Gebilde. Immer wieder sind es zwei Menschen, die Vereinigun
und Frau, der Liebesakt, der hier in unterschiedlichen Positionen zur Darstellung gelangt. Und dies jedes Mal undeutlich im Detail, aber eindeutig im Zusammenhang, so dass auch hier die Vorstellung gefragt ist, der Betrachter zu eigenen Visionen herausgefordert wird.
Es sind diese und andere Sommernachtsphantasien, die heute und hier im Mittelpunkt der Ausstellung stehen. Immer wieder kreisen sie um ein zentrales Thema: um die Liebe und den Eros, jene Triebkraft des Lebens, die auch den Ursprung allen künstlerischen Schaffens darstellt, so heißt es, oder die Wurzel aller Kunst, die laut Picasso „niemals keusch“ sein kann. Schon immer hat das Erotische eine große Anziehungskraft auf die Kunstschaffenden ausgeübt – und auch hier präsentiert es sich als Inspirationsquelle für vielfältige Bild oder Skulptur gewordene Imaginationen, die über das rein Körperliche hinausweisen. Für jeden ist das Erotische oder Schöne einer Sommernachtsphantasie etwas anderes, einmal ist es das Verhüllte oder Unverhüllte, dann wieder das Eindeutige oder Mehrdeutige, das Abwesende oder Anwesende. Jeder verbindet andere Phantasien mit diesem nur schwer fassbaren Phänomen. Und jeder betrachtet es aus einer anderen Perspektive und mit anderen Gefühlen: mal erheitert oder geschockt, mal angezogen oder abgestoßen, mal angeregt und sensibilisiert.
Mit vielen Formen und Erscheinungen des Eros setzen sich die Künstler in ihren Sommernachtsphantasien auseinander: Sie thematisieren die erotische Sphäre von Versuchung und Vereinigung, von Wunschvorstellung und Verlangen, von Liebe, Leidenschaft und Lust und vielem mehr. So spiegeln sie in ihren vorwiegend figürlichen Darstellungen etwas Abstraktes, etwas Unsichtbares. Sie zeigen etwas, das in seiner Gesamtheit nur andeutungsweise zu erfassen ist: eine bestimmte Stimmung und Atmosphäre, eine gewisse Spannung, die Anziehungskraft des Anderen. Es sind „verkörperte“ Phantasien, die ihrerseits wieder zu neuen Imaginationen führen und darüber hinaus den Betrachter auf sich selbst verweisen. In diesem Sinne treten auch hier die Kunst und die Erotik gemeinsam auf: „als große Verführer“ (wie es einmal in einem anderen Zusammenhang hieß), die den Menschen zu sich selbst verführen können: zu seinen eigenen Phantasien, zu individuellen Visionen von einer oder mehreren Sommernächten.